Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts war das Interesse an der sich stürmisch entwickelnden jungen Luftfahrt groß. Die Internationale Luftschiffahrt-Ausstellung (ILA) in Frankfurt im Jahre 1909 wurde von drei Millionen Menschen besucht. Dies ließ auch in Marburg den Wunsch aufkommen, an der “Eroberung des Luftraums” teilzuhaben. Besonders in Universitätskreisen war man an der Ballonfahrt als einem der wichtigsten meteorologischen Hilfsmittel interessiert, außerdem wollte man mit Ballonen medizinische Probleme wie das Verhalten des menschlichen Organismus in großen Höhen untersuchen.
 
Mit einem Aufruf in der Oberhessischen Zeitung wurde die Gründung des “Kurhessischen Vereins für Luftschiffahrt”, wie der Verein dann zunächst auch hieß, vorbereitet. Der Aufruf war unterzeichnet von Bankier Bang, Prof. Brauer, Buchhändler Braun, Univ. Buchdirektor und Bankier Erhardt, Geheimrat Fischer, Korvettenkapitän a. D. Dr. Claus, Prof. Gürber, C. H. Hering, Gutsbesitzer Hoffmann, Privatdozent Hübner, Oberleutnant Kauftmann, Geheimrat Kayser, Prof. Krauss, Rechtsanwalt Külz, Prof. Richarz, Dr. med. Sardemann, Prof. Sauerbruch, Prof. Schenck, Apotheker Schollmeyer, Bankier Strauss, Dr. Stuchtey, Oberbürgermeister Troje, sowie von Privatdozent Wegener. Die Gründungsversammlung fand am 11. Oktober 1909 in den Stadtsälen statt. Es waren dreißig Personen erschienen. Vorsitzender wurde der Geheimrat Prof. Richarz, stellvertretender Vorsitzender Prof. Brauer, Schriftführer Rechtsanwalt Külz, Schatzmeister Bankier Bang, Fahrtenausschußvorsitzender Privatdozent Dr. Wegener und dessen Stellvertreter Prof. Gürber.
 
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Ballontaufe am 8. Mai 1910 an der Füllstation neben dem Gaswerk am Afföller. Der Ballon erhielt den Namen "Marburg"
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11.9.1910 - Ballonfahrt über den Wolken. Dr. Wegener sitzt verwegen auf dem Rand des Korbes

Bereits im Januar 1910 erwarb der neugegründete Verein, der bald 146 Mitglieder zählte, in Frankfurt einen 1260 Kubikmeter Gas fassenden Freiballon. Der Ballon, der 5000,- Mark kostete, absolvierte seine erste Fahrt von Marburg aus. Sie führte über Thüringen nach Sachsen. Bei strömendem Regen wurde der Ballon am 8. Mai 1910 an seiner Füllstelle neben dem Gaswerk im Afföller auf den Namen ,,Marburg" getauft.

Der erste Vorsitzende des Vereins, Prof. Richarz war Direktor des Physikalischen Instituts der Universität. Dort war auch Privatdozent Dr. Wegener wissenschaftlich tätig. Das führte dazu, daß sämtliche Versammlungen des Vereins im Physikalischen Instituts stattfanden im Direktorzimmer oder im Hörsaal des alten und später neuer Instituts. Die engen Beziehungen zwischen Verein und Universität dokumentieren sich auch in den zahlreichen Vorträgen mit wissenschaftlichem Inhalt, die anläßlich solcher Versammlungen gehalten worden sind. Es wurde referiert über interessante Messungen der Rückstrahlung der Wälder, Wiesen und Wolken. Eine besondere Meßapparatur war dazu von den Drs. Wegener und Stuchtey mit Unterstützung von Prof. Richarz gebaut worden. Bei anderen Versammlungen des Vereins wurden Vorträge gehalten über die Bedeutung von Ballon- und Luftschiffaufnahmen für den Städtebau und das Vermessungswesen, über die Spitzbergen- und Danmark-Expeditionen, über Untersuchungen der Wolkenbildung und Gewitterentstehung. In diesem Zusammenhang wurden zahlreiche Fotos und Beobachtungen bei Ballonfahrten einbezogen.

Waren auch die Motivationen zu Ballonfahrten in dieser Zeit zumeist rein wissenschaftlicher Natur, so wurden Luftfahrten aber auch aus reiner Freude daran ausgeführt. So wird in der Oberhessischen Zeitung von einer “Schönheitsfahrt” am 11. September 1910 berichtet, an der Dr. Wegener als Ballonführer, Dr. Stuchtey, Prof. Krauss und Bertram Schäfer, großer Gönner und später Ehrenmitglied des Vereins, teilnahmen. “Als der Ballon die über Marburg liegende Nebelschicht durchstoßen hatte, und immer noch das Geläute der Marburger Kirchenglocken hörbar war, stimmte Prof. Krauss mit seiner Baritonstimme das Lied an: ,Ich grüß' Euch, Bergstadt' das letzte Mal...' Im Ballonkorb herrschte eine feierliche Stimmung.” Die Fahrt wird in allen Einzelheiten blumenreich beschrieben.

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Blick aus dem Ballonkorb auf die Elisabethkirche
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22.4.1914 - Eine "Rumpler Etrich Traube" war das erste Flugzeug, das auf den Afföllerwiesen landete

In Kassel und Gießen wurden dem Verein angeschlossene Ortsgruppen gebildet. Anscheinend wirkte sich damals der Föderalismus auch auf den Namen des Vereins aus. Die Ortsgruppe Gießen, ländermäßig zum “Großherzogtum Hessen und Rhein” gehörend wünschte die Änderung des Namens in “Hessischer Verein für Luftfahrt”. Ende Mai 1911 wurde diese Namensänderung vollzogen, mit den jeweiligen Zusätzen “Sektion Marburg”, “Sektion Gießen” und “Sektion Cassel”. Marburg blieb der Stammverein. Die Sektion Gießen machte sich im Mai 1912 als “Verein für Luftfahrt Gießen” selbständig. Daraufhin erfolgte am 30. Juli 1912 eine erneute Namensänderung in “Kurhessischer Verein für Luftfahrt” Sektion Marburg bzw. Sektion Cassel. Dabei blieb es dann, bis nach dem ersten Weltkrieg auch Kassel selbständig wurde und damit die Sektionszusätze bei dem Vereinsnamen entfielen.

Ein denkwürdiger Tag war der 5. Mai 1912 in der Geschichte des Vereins. Unter Führung von Dr. Eckener landete damals das Luftschiff "Viktora Luise" auf den Afföllerwiesen bejubelt von zehntausenden von Menschen aus Marburg und Umgebung. Nach einer Stunde Aufenthalt und Passagierwechsel startete das Luftschiff zum Rückflug nach Frankfurt. Anläßlich eines Schaufliegensam 25. Mai 1913 konnten die Marburger zum ersten Male Flugzeuge auf den Afföllerwiesen starten und landen sehen. Nachweislich des Protokollbuches hat der Ballon den Namen der Universitätsstadt 58 mal in deutsche Lande und auch in Nachbarländer getragen. Bei Kriegsausbruch im Jahre 1914 wurde er von der Heeresleitung beschlagnahmt und diente zunächst Artilleriebeobachtern als Fesselballon und diente später, als er nicht mehr fahrtüchtig war, der Flak-Artillerie als Zielscheibe.

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Ausziehen - Laufen - Los! Gummiseilstart eines Schulgleiters SG 38
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Ernst Udet anlässlich des 20. Vereinsjubiläums 1929

Bei Kriegsende im Jahre 1918 lag das Vereinsleben völlig brach. Der Plan, einen neuen Freiballon zu beschaffen, ließ sich nicht realisieren. Mit primitiven Mitteln verstand es damals Paul Bohlen, der während des Krieges Flieger beim deutsch-türkischen Asienkorps war, junge Menschen für den Segelflug zu begeistern, zusammen mit seinen Flugschülern Flugzeuge zu bauen undmit Hilfe von Gummiseilen vom Hasenkopf zwischen Ockershausen und Cyriaxweimar zu starten. Eine starke Anziehungskraft übten auch die von Paul Bohlen organisierten und ab 1926 auf den Afföllerwiesen veranstalteten Flugtage aus. Hierbei beteiligten sich jedesmal bekannte auswärtige Kunstflieger darunter der aus dem ersten Weltkrieg berühmte Jagdflieger Ernst Udet

Vom Jahre 1933 an erfolgten alle Luftsportaktivitäten im Rahmen des Deutschen Luftsportverbandes. Diese “Gleichschaltung” erfuhr eine abermalige Veränderung durch Überführung in das NSFK. Es war insbesondere das Verdienst von Bertram Schäfer und Dr. Johannes Müller (Onkel Jo), daß der "Kurhessische Verein für Luftfahrt von 1909" über die Jahre der Gleichschaltung und nach dem Zusammenbruch ununterbrochen im Vereinsregister der Stadt Marburg geführt worden ist.

Sehr eng war die Zusammenarbeit zwischen Verein und Universität in den dreißiger und vierziger Jahren über das Institut für Leibesübungen. Hier gab es eine Luftfahrtabteilung, deren Leiter der Segelflughauptlehrer und Studienreferendar Heinz v. Felde war. Die Teilnahme an den Segelfluglehrgängen für Studierende der Leibesübungen erstreckte sich auf die Fachgebiete Flugunterricht, theoretischer Unterricht und Werkstattunterricht. Die praktische Flugausbildung erfolgte auf dem Flugplatz in den Afföllerwiesen, am Goldberg bei Cölbe sowie in Cyriaxweimar, wo die Universität eigens einen Schuppen errichtete, in dem drei Schulgleiter Platz hatten. Mit Beginn der dreißiger Jahre wurden Schleppwinden verwendet sowie später auch Schleppflugzeuge. Schließlich verfügte man in Marburg über drei Motorflugzeuge und vierzig Segelflugzeuge. Viele Segelflieger wurden hier ausgebildet. Bei schönen Wetterlagen gehörten Segelflugzeuge über Marburg zum Erscheinungsbild der Stadt.